• 1.11.22 Ohne-Not-Notrecht

    1.11.22 Ohne-Not-Notrecht

    221101 SZ Lei Notrecht

    Rechtsstaat in Not

    von Hermann Lei, Kantonsrat, Frauenfeld

    Notrecht kam früher nur bei Krieg und Katastrophen zur Anwendung. Heute schon, um eine Gasturbine laufen zu lassen. Das ist eine Katastrophe.

    Das «System Schweiz» ist eine umständliche Staatsform: eigenständige Kantone und Gemeinden, Kollegialregierungen, Zweikammersystem und vor allem ausgebaute direkte Demokratie. Es ist diese gemächliche, basisdemokratisch Rechtsstattlichkeit, welche uns friedlich, frei und reich gemacht hat.

    Notrecht im Krieg
    Art. 185 der Verfassung ermöglicht es dem Bundesrat nun aber, bei unmittelbar drohenden schweren Gefahren für die Schweiz Notrecht zu erlassen. Ein Krieg, ein verheerender Terroranschlag mit tausenden von Toten oder ein grosse Landesteile verwüstende Naturkatastrophe wären Gründe für Notrecht oder die Aufbietung von Armeeteilen. Wenn gar die Existenz der Schweiz als solche bedroht ist kann der Bundesrat nach gängiger Meinung Notrecht erlassen, das ausserhalb der Verfassung steht und Teile der Grundrechte ausser Kraft setzen. Ähnliche Kompetenzen hat das Parlament.

    Gesunkene Notrechtshemmung
    In der Vergangenheit setzte der Bundesrat Notrecht wegen Druck auf unser Bankgeheimnis, wegen neuartiger, aber grippeähnlicher Erkrankungen, wegen russischen «Oligarchen» oder um mit einer Gasturbine im Aargau Strom produzieren zu können, in Kraft. Selbstverständlich ist aber die Energiemangellage keine plötzlich über uns hereingebrochene Naturkatastrophe, sondern war seit Jahren vorhersehbar. Und weder Strommangel noch Oligarchen vermögen die Schweiz in ihrer Existenz unmittelbar zu bedrohen, sodass Grundrechte eingeschränkt und neue Strafbestimmungen erlassen werden dürfen, wie das nun der Fall ist. Beispiellos war die Situation zu Covid-Zeiten. Notverordnungen wurden im Tagestakt erlassen, das Parlament segnete alles ab, wenn es denn überhaupt gefragt wurde. Die Grundrechte wurden ohne Not und ausserhalb der Verfassung ausgehebelt.

    Auf der Stufe von Albanien
    Eine Demokratie-Studie, die vom Aarauer Zentrum für Demokratie kommt zum Schluss, die Schweiz sei mit dem massiven Griff zum Notrecht im «Machtkonzentrations-Index» auf die Stufe von Ländern wie Albanien, Kroatien und Rumänien gesunken. Das ist wohl kein Zufall. Das Schweizer Modell der «Macht von unten» statt von oben ist für das Establishment äusserst lästig. Die Krise hingegen ist die Stunde der Exekutive und wenn staatlicher Machtmissbrauch von der hündischen Journaille beklatscht und beleckt statt kritisch beäugt wird, dann fallen alle Hemmungen: Der Bundesrat regiert durch, das Parlament gibt seine Rechte am Eingang des Bundeshauses ab und sogar die Kantone rufen handlungsunwillig nach der starken Hand des Staates.

    Notrechtsstopp
    Not tut eine klare Rückbesinnung auf den republikanischen Rechtsstaat. Notwendig ist auch die Einführung von «Notrechtsstoppern» wie die Einführung eines Beschwerdeverfahrens gegen bundesrätliche Notverordnungen, eines obligatorischen Referendums gegen dringliche Bundesgesetze, wie sie die Giacometti-Initiative fordert oder einer automatischen Ausserkrafttretung von Notrecht (Sunset-Klausel) nach z.B. 100 Tagen.
    Hermann Lei

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